Wir leben wirklich in einer Zeit, die vielleicht in die Geschichte eingehen wird. Europa hier, Griechenland dort, wie wenn man sagen würde Köln hier, Dom dort oder München hier, Theresienwiese dort. Kann man so eine Trennung machen? Nein und abermals nein! Aber ein Kleindenkerhirn ermöglicht alles.Gerade in dieser Zeit verbrachten und verbringen wir Tage auf Kreta. Das Meer ist völlig überraschend wie immer blau, der Himmel auch total ungewöhnlich sonnig, das Wetter total befremdlich heiß und die Menschen na ja, fast wie immer. Stets freundlich, stets mit einem Willkommen auf den Lippen, trotzdem mit einer Bitterkeit, einer Verunsicherung in den Augen. Einige der unzähligen Momente von Glück und Trauer möchte ich gerne wiedergeben.
Teil 1
Bei uns heißen Tenia und Manos „die Verliebten“. Beide sind Ende zwanzig und für Mitte September ist die Hochzeit geplant. Bei den letzten beiden Treffen hatten wir die Zeche bezahlt und beiden hatten das akzeptiert, denn beim nächsten Mal, wenn wir im Juli wieder hier sind, wären sie mit dem Zahlen dran. Wir hatten den Dienstagabend reserviert. Mittags erhielt ich einen Anruf von Manos: „Du, heute Abend ist etwas dazwischen gekommen, lass uns doch kurz ein Bier trinken gehen….“ Im Laufe des Telefonats stellte es sich heraus, dass Tenia schon seit einem Monat kein Geld erhalten hatte, sie arbeitet in einer Boutique in der Innenstadt, und Manos war diese Woche von der Schreinerei, in der er beschäftigt ist, freigestellt worden, weil sein Chef die Volksbefragung am 5. Juli abwarten möchte. Ich sagte daraufhin: “Kommt doch heute Abend zu uns, wir trinken einen Raki und quatschen über all das was uns beschäftigt.“ Wie es üblich ist, trafen sich dann abends bei uns im Hof die Verliebten, wir zwei „Alt-Verliebte“, Kostas, Vassilis und Dimitris. Tante Filareti, die sonst immer mitten drin ist, wollte unbedingt die Berichterstattung der aktuellen Lage im Fernseher miterleben. Da man Raki nicht ohne Meze zu sich nimmt, war unser Tisch voller Leckereien und um nicht den Eindruck zu vermitteln, dass wir extra eingekauft hatten, sagte meine Frau, sie hätte den Kühlschrank geplündert und alles, was darin war, auf den Tisch gestellt. Das anfängliche „nein, wir haben kein Hunger“ endete nach einigen Stunden so, dass sechs Flaschen Retsina, ein Liter Raki und fast alle Teller auf dem Tisch leergeputzt waren. Im Laufe des Abends hatte Tenia öfters feuchte Augen, weil sie sich über ihre Hochzeit Gedanken machte und nicht sicher war, ob diese überhaupt stattfinden kann. Jedes Mal, wenn es so weit war, meinte Kostas: „Lasst uns auf sonnige Zeiten anstoßen.“ Er erhob sein Glas und mit jedem Raki, der getrunken wurde ist ein Stückchen Schmerz und Unsicherheit gewichen. Manos sagte mir beim Abschied: „Wenn Du bald wieder nach Deutschland fliegst, dann sage bitte dem Herrn Schäuble, dass er zwar die griechische Wirtschaftsstabilität ruinieren kann, aber niemals das Herz der Griechen.“ Ich denke, es gibt Augenblicke, die man niemals vergisst. Dieses war so einer für mich. Kostas sagte daraufhin: Lieber Gott, wir haben nur ein Leben. Danke, dass ich es als Grieche leben darf.
Teil 2
Eine der wirklich sehr wenigen Macken, die ich habe, ist die, dass ich zum Frühstück immer frisches Brot oder Brötchen brauche. Und da es hier auf Kreta ein wahnsinnig leckeres Weißbrot gibt (ich hoffe, dass mein Hausarzt das jetzt nicht liest), bin ich jeden Morgen beim Bäcker und hole zwei Brote. Eins mit und eins ohne Sesamkörner. Ich liebe Sesamkörner! Also ich komme aus der Bäckerei, einen Sesamkringel im Mund und in der Tasche die zwei Brote. Da höre ich eine kaum vernehmbare Stimme. Eine ältere Dame, ich verwende absichtlich dieses Wort, gut angezogen und sehr gepflegt, stand vor mir. „Haben Sie mich angesprochen?“ fragte ich. Etwas beschämt zeigte sie mir zwei 20 Cent Stücke in ihrer Hand. „Haben Sie vielleicht noch 50 Cent, damit ich ein Brot kaufen kann?“ Sie sagte es mit demütiger und durchaus glaubwürdiger Miene. Ich griff in meine Tasche, drückte ihr mangels Kleingeld einen Fünf Euro Schein in die Hand und wollte weiter, da hielt sie mich an der Hand fest. „Nein, nein, mein Herr, ich will lediglich nur 50 Cent, bitte warten Sie, ich kaufe ein Brot und gebe Ihnen das Restgeld.“ „Behalten Sie es“, sagte ich. „Auf keinen Fall, vielen Dank, nein.“ Ich entzog ihr meine Hand und legte sie sanft auf ihre. „Bitte behalten Sie das Geld, und wenn Sie am Sonntag in der Kirche gehen, zünden Sie bitte zwei Kerzen zur Erinnerung an meine Eltern an.“ Ich denke, es gibt Augenblicke, die man niemals vergisst. Dieses war so einer für mich. Kostas sagte daraufhin: Lieber Gott, wir haben nur ein Leben. Danke, dass ich es als Grieche leben darf.
Teil 3
Überall auf der Insel ist das Heute, das Jetzt allgegenwärtig. Not und Elend reichen sich die Hand. Trotz allem dürfen wir die Geschichte nicht ignorieren, und ein markantes Bespiel hierzu ist der deutsche Soldatenfriedhof in Maleme, einer kleinen Ortschaft ca. 20 km von Chania entfernt. 1941 wurden bei dem Angriff auf Kreta im Unternehmen Merkur rund ein Fünftel der deutschen Soldaten getötet. In Maleme liegen 4465 junge Menschen, in der Blüte ihres Lebens sinnlos geopfert. Wir waren um die Mittagszeit dort, fast keine Besucher außer uns. Mein lautes: „Warum“ blieb ungehört. Der Grundriss der Anlage symbolisiert die vier Hauptschlachten um Heraklion, Rethymnon, Chania und Maleme. Granitplatten umfassen den Weg mit den Namen und den Daten von je zwei Gefallenen. Ich schließe die Augen und sehe eine Schar junger Menschen, denen die Zukunft durch einen sinnlosen Krieg geraubt wurde. Nichts ist sinnloser als Krieg, nichts kann das Leben dieser jungen Männer wieder bringen. Siebzig Jahre sind inzwischen vergangen. Es gab so viele Kriege auf der Welt, und der moderne Krieg ist der Neoliberalismus mit Zitaten wie…..‘Mir tut das Volk in Griechenland wirklich leid, aber ökonomisch sind die Schritte des IWF und der EZB absolut verständlich‘. Und wie der amerikanische Wissenschaftsautor Isaak Asimow absolut zu Recht sagte: „Gewalt ist die letzte Zuflucht der Unfähigen.“ Vor siebzig Jahren waren nicht genug Menschen in der Lage, NEIN zu rufen. Heute ist es unsere moralische Pflicht, das NEIN zu wählen. Ich denke, es gibt Augenblicke, die man niemals vergisst. Dieses war so einer für mich. Kostas sagte daraufhin: Lieber Gott, wir haben nur ein Leben. Danke, dass ich es als Grieche leben darf.
Teil 4
Die Volksabstimmung war angesetzt und sie wurde mit einem überwältigend hohen Prozentsatz des OXI (Nein) zur Verarmung und Vernichtung des Landes beendet. Die „Größen Europas“ trafen sich wieder und beschlossen —- Nichts. In der Nacht schlief ich schlecht, fast wie die ganzen Nächte zuvor, weil ich machtlos erlebe, wie im Schnitt zwanzig Menschen pro Tag, weil sie schlicht nichts zu fressen haben oder weil sie ihre Familien nicht mehr durchbringen können, Selbstmord begehen. Die Angstträume kommen. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Belagerung eine Sonderform des Angriffs ist, um befestigte Anlagen zu bezwingen oder arme Völker zu neutralisieren (was für ein Ideologisches Wort). Von der frühgeschichtlichen Zeit bis heute stellt die Belagerung ein wesentliches Element der Kriegsführung dar. Ziel ist es, den Gegner zu schwächen und diesen dazu zu bringen, in eine Kapitulation einzuwilligen. Dieses geschieht durch Aushungern, Demoralisieren, also physische und psychische Vernichtung. Wie die Demokratie ist das „Belagern“ ebenso ein griechisches Produkt. Ok, Jericho im Alten Testament möchte ich ausklammern. Aber man denke an Troja oder an die Schlachten Alexander des Großen. Julius Cäsar perfektionierte dann die Belagerungstechnik. Man kennt diverse Belagerungen vom russisch-japanischen Krieg oder vom ersten Weltkrieg. Madrid, die spanische Metropole, war sogar drei Jahre lang belagert worden. Ich erinnere auch an die „Quarantäne“ während der Kubakrise.
Was geschieht momentan mit Griechenland?
Kostas meint: Lieber Gott, wir haben nur ein Leben. Danke, dass ich es als Grieche leben darf.